Mirror Mirror Band 1 (im Entstehen)


MIRROR MIRROR  BAND 1

 

 

 

 

 

 

 

WIR SIND ALLE KAKADUS

 

Moderne Märchen

 

 

 

 

 

 

 

Natascha Dimitrov

 

 

 

 

 

 

 

Für die letzten Träumer auf diesem Planeten, sowie alle anderen, die quasi erwachsen sein sollten.

 

 

 

 

 



KOMMEN SIE MIT IN EINE ANDERE WELT...

INHALT (= Arbeitstitel, bis auf „WIR SIND ALLE KAKADUS“ und „FADESSE OBLIGE“)

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1. DAS TASCHENTUCH

 

2. DER BLINDE HUND

 

3. DIE PRINZESSIN VON BLOOMINGDALE’S

 

4. WIENER WUT

 

5. FADESSE OBLIGE (=Leseprobe)

 

6. EIN KÄFER IN INDIGO

 

7. WIR SIND ALLE KAKADUS

 

8. DER TROUBADOUR

 

9. LILA LOBSTER

 

10. WEISSES GOLD

 

11. OCEANIA

 

12. DIE HEXE DER BEWEGTEN BILDER

 

13. CHEMIEWAFFEN

 

14. EAST END GIRLS

 

15. DER BLAUE FADEN

 

16. DIE KLOSTERFRAU

 

17. IRGENDWAS MIT EWIGKEIT

 

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5. FADESSE OBLIGE

 

MUSIK: Maurice Ravel – Boléro

 

Himmel! Olympia traute ihren chromoxidgrünen Augen kaum. Und fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Halberwachsene Männchen und Weibchen bildeten mehr oder weniger verklemmt einen Kreis, der einem überdimensional deformierten Straußenei glich. Neunundvierzig Augenpaare blickten gierig balzend in die Runde – von rechts nach links und wieder retour. Wie aufdringlich! Sie verabscheute die Tanzstunden wie die Pest, doch der Rosenball in Monaco nahte. Also Augen zu und durch. Verkrampft versuchte sich jeder von seiner Schokoladenseite zu präsentieren, die Masche in Cartier-Rot im platinblonden Haar ihrer Nachbarin etwa schrie förmlich „Wer will mich?“. Ein Trauerspiel par excellence. Olympia selbst zog meistens n’importe quoi, irgendwas an, denn auf Kleidung hatte sie bis dato nicht besonders viel Wert gelegt. Dabei war sie der Tanzkunst per se ganz und gar nicht abgeneigt. Im Gegenteil. Genau betrachtet tanzte sie sogar für ihr Leben gern, schon seit ihrem vierten Lebensjahr. Angefangen hatte es mit den obligaten Ballettstunden bei einer Choreografin, die aussah wie Marcia Haydée, begleitet von einem dramatisch dreinschauenden Pianisten, der Debussy zum Besten gab. Und dabei der Horde wild hopsender Zwerge mit orangefarbenen, am Rücken befestigten Chiffonflügeln zusah. In späteren Jahren waren dann – so gut es ging - Modern Jazz und Tap Dance angesagt.

Zurück zu diesem unsäglichen Gesellschaftstanzunterricht. Nach jeweils zwei bis drei Liedern wechselten die männlichen Tanzpartner reih um zur nächsten jungen Dame. Cha-cha-cha eins zwei, cha-cha-cha drei vier. Man stellte einander vor. Versuchte, sich locker zu geben, aber – ach - auf wundersame Weise gelang es dann doch nicht. Zumindest ihr nicht. Olympia rückte ihre dicke Sportbrille in dynamischem Silbermetallic zurecht, strich sich durch die Irgendwie-Sturmfrisur und schluckte verlegen. Und da sie zu allem Übel auch noch schüchtern war, kriegte sie sowieso keinen einzigen Ton heraus. Was ihr im Übrigen schon oft den Ruf der Arroganz eingebracht hatte. Smalltalk? Wie buchstabiert man das doch gleich?! In Gedanken war sie schon längst bei ihrem Appaloosa-Einhorn bei Neuilly-sur-Seine. Ach ja, und die Sarah Moon Ausstellung wollte sie heute auch noch sehen. Sie stammte aus einer bekannten, mehr oder minder verrückten Professoren-Familie, die in großem Ausmaße mit Forschungen für die NASA beschäftigt war. Also unterhielt sich Olympia schon seit ihrer Kindheit mit ihren Weißhaubenkakadus Quillis und Phillis, wenn sie ein Bedürfnis nach Ansprache verspürte. Oder mit dem silbernen Mond. Und den leicht vertrockneten Orchideen, die ihr eklektisch eingerichtetes, mit wertvollen englischen Tapeten ausstaffiertes Boudoir verschönerten. Wenn sie nicht etwa mit ihrer 92jährigen Urgroßtante Backgammon spielte. Ebenfalls schweigend, kleine Macarons in zarten Pastelltönen naschend. Ihre Urgroßtante war es auch, der zuliebe sie diese ganze Chose nebst Ballkleid-Fittings bei Yves mitmachte. 

Da sie also mit ihren jeweiligen Tanzpartnern so gut wie gar nicht sprach, versuchte sie einfach, hochroten Gesichts möglichst im Takt zu bleiben und irgendwie die Contenance zu wahren. Samba. Walzer. Foxtrott. Und dann - passierte das Unvermeidliche. Irgendwann MUSSTE es ja kommen: Herrenwahl. Wie.erniedrigend.ist.das.denn?! Olympia wartete. Und wartete. Und wartete. Wie bestellt und nicht abgeholt. Erde tu dich auf! Hatte sie etwa Pestbeulen? Das war ja noch abgrundtief schlimmer, als der Alptraum von Sportunterricht, wo Teams gebildet werden, und keiner ruft dich auf. Kurz vor Schluss waren nur noch sie und eine zweite traurige Gestalt übrig, die just in diesem

 

2 / Fadesse Oblige

 

Moment seufzend aufgefordert wurde. Der letzte Tanzpartner, der quasi für Olympia bestimmt war, hatte aber krankheitshalber den Unterricht schon frühzeitig verlassen,

und so musste sie letzten Endes auch noch mit dem Assistenten des Tanzlehrers vorlieb nehmen. Das war an Peinlichkeit ja wohl kaum noch zu überbieten!

War sie derart unattraktiv? Oder schlicht zu negativ? Wenn es wenigstens nur das gewesen wäre. Welche Schmach! Der Assistent tat, als wäre es die normalste Sache der Welt, mit ihm zu tanzen und darüber hinaus schien er nett zu sein. Er war einen Kopf kleiner als sie und hatte einen fetten, gezwirbelten Schnurrbart. Einen Schnurrbart! Am liebsten hätte sie eine große Schere genommen und diesen elegant entfernt.

Die letzten Runden nahten. Tango Argentino stand jetzt auf dem Programm. Der Inbegriff von Sinnlichkeit, wie er im Buche steht. Auch das noch! Fehlte lediglich die fuchsiafarbene Pfingstrose zwischen den Zähnen, oder so ähnlich. Vielleicht war sie einfach für diesen ganzen zwischenmenschlichen Kram nicht geschaffen. Ja, vielleicht sollte sie sich ernsthaft überlegen, ins Kloster zu gehen und Nonne zu werden. Olympia von Bingen. Oder, noch besser, Olympia Innocentia Hummel. Da könnte sie sich nebenbei auch künstlerisch austoben, was ihr zweifelsohne mehr lag. Und als sie so vor sich hin sinnierte, stand urplötzlich ein langes, schlaksiges Etwas mit Straßenhund-Blonden Locken vor ihr. Etwas tollpatschig vielleicht, aber äußerst sympathisch wirkend. Zumindest auf den ersten Blick. Sein Name war Finn. Finn, wahrscheinlich wie Finnlay. Oder gar Finnegan? Sie wagte nicht, zu fragen. Dem leicht nordisch anmutendem Akzent nach zu urteilen, schien er skandinavische, genauer gesagt, norwegische Wurzeln zu haben, was sich später als richtig herausstellen sollte. Irgendwie hob er sich von den anderen ab, denn er wirkte so herrlich unkompliziert in seiner ebenfalls weltfremden, aber zuvorkommenden Art, und er lachte auffallend oft. Darüber hinaus tanzte er genauso unbeholfen wie sie. Man kam ins Gespräch. Eigentlich war er es, der redete, und Olympia lauschte gebannt seinen Worten. Vielmehr waren es  seine Stimme und die Art, wie er sprach, die sie faszinierte. Finn erzählte von unzähligen Übersiedlungen um die halbe Welt, denn aus beruflichen Gründen seiner Eltern, wie er sagte, war er in mehreren Ländern aufgewachsen. Und wirkte auch dementsprechend offen für Neues. Und während er so sprach, begann er plötzlich zu leuchten, nahezu überirdisch. Er schien sogar regelrecht über dem glänzenden Tafelparkettboden zu schweben. Darüber hinaus erzählte er von einer phantastischen Oper Offenbachs, in der ihre Namenscousine vorkommt und den Olympischen Spielen, die er im vergangenen Jahr besucht hatte. Sehr witzig. Auch eine Art von Humor. Oder war es gar der zarte Versuch, eine erste Brücke zu ihr zu schlagen? Aber das war absolut unmöglich! Schließlich hatte sie seit jeher einen Ruf als Fräulein Sonderbar. Das war schon immer so gewesen. Bereits zu Sandkastenzeiten. Meistens schwieg sie aus oben genannten Gründen, aber immer öfter auch, weil sie sich schlicht tödlich langweilte. Ja, man könnte fast sagen, dass sie sich tief in ihrer Seele meist geistig unterfordert fühlte. Unbewusst natürlich. Das war wohl auch einer der Hauptgründe, weshalb sie sich instinktiv lieber ihrer eigenen Traumwelt zuwandte und sich der Muße hingab. Sie hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung, welchen Narren dieser Finn an ihr gefressen haben könnte, jedenfalls hörte er einfach nicht auf zu reden. Aber wahrscheinlich war das seine weltoffene Art, und es war besser, wenn sie es nicht allzu persönlich nehmen würde. Genau, sie würde diese Begegnung innerlich einfach unter „wundersame Begebenheiten des Lebens“ ablegen. Und aus. Manche Dinge soll man eben nicht überbewerten.

 

 

3 / Fadesse Oblige

 

Finn hatte sich allein aus zwei Gründen zum Tanzunterricht eingeschrieben. Einerseits wollte er tatsächlich tanzen lernen, und zum anderen brauchte er jetzt dringend Ablenkung. Jedes Jahr, wenn die Blätter von den Bäumen fielen, grüßte ihn der Tod.

Ganz sanft flüsterte er „es gibt mich“. Das ging nun schon seit Jahren so. Zu hülf, er war doch erst fünfundzwanzig! Es war wie verhext. Gevatter Tod rief sich in Erinnerung,

immer und immer wieder, wie das Amen im Gebet. Und trat genau dann auf, wenn er es am wenigsten erwartete, wütete elegant in seinem Umfeld und rauschte mit seinen Lieben von dannen. Unerbittlich. Man konnte sich nicht einmal darauf vorbereiten. Eine Hinterhältigkeit sondergleichen! Dabei machte er keinen Unterschied zwischen Finns Familie, seinem ozeanblauäugigen Siamkater (eine wahre Katastrophe!), dem engen Freundes- oder entfernteren Bekanntenkreis. Freunde unter 35 Jahren wohlbemerkt, also viel zu jung für das Jenseits. Aber – ist man dafür nicht in jedem Alter „zu jung“? So abgebrüht es auch klingen mag – in gewisser Weise gewöhnte er sich daran. An den Schock, die Trauer und die Tränen. Immer wieder das Gleiche. In seinem kurzen Leben war er auf mehr Beerdigungen als auf Hochzeiten gewesen. Das sollte ihm erst einmal jemand nachmachen. Auch im letzten Jahr wurde er nicht verschont: Spätsommer. Sonntagsfrühstück. Finn, in bester Laune und in Gesellschaft eines knusprigen Croissants, und....PAFF! Da war er wieder. Und grüßte ihn diesmal kreativerweise über das Radio: Tod eines peripher Bekannten aus Manhattan. Der Bissen blieb ihm beinahe im Halse stecken. In den darauf folgenden Wochen erfuhr er von drei weiteren Todesfällen, die seine engsten Freunde betrafen und diese in tiefe Trauer stürzten. Was er zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht einmal im entferntesten ahnen konnte war, dass das alles nur einen klitzekleinen Vorgeschmack auf die emotionale Hölle darstellte, die folgen sollte. Denn wenige Wochen später streifte der Exitus auch noch beinahe seine eigene Familie, und zwar seine Tante. Und was sollte als nächstes kommen? Genug ist genug! A propos genug: Tod heißt, rückwärts gesprochen und auf Englisch übersetzt „Punkt“. So wie Schlusspunkt. Aus. Schluss. Grande Finale. Grande Finn. Ja, in der Tat, er war mindestens so groß wie ein Riese, im Sinne von mental stark. Der Tod schlich um ihn herum. Aber Finn hatte aufgrund dieser tragischen Ereignisse der letzten Jahre für sein Alter eine ungeheure Reife entwickelt, und stand derart über den Dingen, sodass er sich unter seinesgleichen immer öfter beinahe wie ein Außerirdischer fühlte. Na ja, das ist etwas übertrieben, sagen wir, er fühlte sich im Geiste wie ein menschliches Wesen von mindestens dreihundert Jahren. Was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch damit zu tun hatte, dass er die halbe Welt gesehen hatte. Was zugleich mit sich bringt, dass man sich innerhalb von kürzester Zeit immer wieder aufs Neue auf Leute einlassen kann und somit eine ganz besondere Art von Menschenkenntnis und Lebenserfahrung entwickelt. Infolgedessen war Finn in seiner Art ein ausgesprochen freier Mensch, der offen auf andere zugehen konnte, wenn er sich nicht gerade in anderen Welten befand. Wenigstens fühlte er sich so. Sein sogenanntes zweites Ich hatte manchmal Vorahnungen, um nicht zu sagen Eingebungen, die sich oft bewahrheiteten. Esoteriker würden ihn als spirituell veranlagt bezeichnen, auf jeden Fall aber war er höchst empfindsam.

Diese Tanzstunde amüsierte ihn. Christophe hatte ihm die Schule empfohlen. Köstlich, wie alle einander beäugten, mal neugierig, mal scheuen Blickes, auf jeden Fall aber kritisch. Er selbst war mitten drin im Geschehen und doch leicht abwesend. Eben wie immer. Finn schien wohl der Einzige zu sein, dessen Schuhe nicht maßangefertigt und spiegelglatt poliert waren. Aber das machte nichts. Zumindest ihm nicht. Ehrlich gesagt, der Aufruf zur Herrenwahl war auch ihm nicht ganz geheuer. Er hatte nicht die leiseste

4 / Fadesse Oblige

 

Ahnung, wen dieser jungen, leicht verwöhnt wirkenden Damen er auffordern sollte. Unkompliziert und leicht unbeholfen wie er war, entschied er sich schlicht für die Engländerin, mit der er soeben, mehr schlecht als recht, den Jive aufs Parkett gelegt hatte. Aufmerksam ließ er seinen Blick in die Runde schweifen, als seine Augen plötzlich auf Olympia haften blieben. Alle hatten schon ihre Position eingenommen, und sie saß immer noch da. Mutterseelenallein. Aber mit einer Haltung, die einer Königin würdig gewesen wäre. Was wohl in diesem Moment in ihr vorgehen mochte? Neben den anderen jungen Frauen wirkte sie, trotz ihrer kraftvollen Ausstrahlung, beinahe ätherisch. Ja genau, das musste wohl der Grund gewesen sein, warum sie niemand aufgefordert hatte. Sie wirkte schlicht zu stark für die Anwesenden. Jetzt tanzte sie mit dem Assistenten des Tanzlehrers. Und wo positionierten die beiden sich? Genau neben Finn und seiner Tanzpartnerin! Was bedeutete, dass sie die kommende Runde miteinander tanzen würden. Seine Neugierde war geweckt, und die Vorfreude groß. Was für eine Überraschung war es daher, als er Olympia tatsächlich gegenüber stand und sie einander vorstellten. Sie erschien unglaublich zurückhaltend, nahezu wortkarg. War es die Nervosität oder war er ihr einfach nicht genehm? So etwas hatte er noch nicht erlebt! Ihre chromoxidgrünen Augen musterten ihn, allerdings sprachen sie nicht, während das kastanienbraune, frischgewaschene Haar in alle Himmelsrichtungen stob. Ihre gesamte, stilvoll zusammengewürfelt wirkende Erscheinung war eine Wohltat – und sie war die erste, die nicht von einer dick aufgetragenen Wolke aus Parfum und anderen Lockmitteln vernebelt war. Und genau das machte sie interessant. Olympia wollte partout nicht gefallen. So schien es. Wollte sie das wirklich nicht? Was im Himmel machte sie dann ausgerechnet hier? Zwischen all den bunten Geschöpfen, die ein Pfauenrad nach dem anderen schlugen. Oder kokettierte sie gar? Nein, das konnte nicht sein, denn sie wurde bei jedem dritten Wort, das er von sich gab, rot wie eine überzüchtete Gen-Tomate. Wenn er nur besser führen könnte! Sie musste ihn für einen kompletten Versager halten. Von Takt im Tanze keine Spur. Von Taktgefühl hingegen schon. In den Pausen begann er zu sprechen. Er erzählte irgendetwas, um  nur ja kein peinliches Schweigen – von einverständlichem Schweigen waren sie Lichtjahre entfernt - aufkommen zu lassen, denn er konnte kaum ein Wort aus ihr hervorlocken. Er entsann sich sogar einer Oper, in der eine Puppe ihres Namens vorkommt. Eine Puppe - oh nein! Etwas Dümmeres hätte ihm wohl nicht einfallen können. Er machte sich verbal zum Hampelmann, und das alles auf französisch, aber dieser Mensch schien sich einfach durch nichts und niemanden beeindrucken zu lassen. Und als er schon die Hoffnung aufgeben wollte, geschah etwas Merkwürdiges: sie begann tatsächlich zuzuhören. Und antwortete auf ihre Art, und zwar mit den Augen. So deutete er es jedenfalls. Diese verfärbten sich langsam von Chromoxidgrün in leuchtendes Lilablassblau. Olympia war wie ein Land, dessen Sprache er zwar nicht verstand, doch er hatte fürs erste einen Weg gefunden, ohne Worte mit ihr zu kommunizieren. Und es fühlte sich gut an. Etwas seltsam, aber gut. Hinter ihrem Schweigen verbarg sich etwas ganz Besonderes, eine Persönlichkeit, das spürte er. Sie war wie ein verborgener Schatz, den man erst entdecken muss, denn sie inszenierte sich nicht. Weder in ihrem Benehmen, noch in ihrem Erscheinungsbild. Was atypisch war, im Zeitalter des allgemeinen Instagramm-Facebook-Twitter-Gewitters. Sie war wie ein Wesen aus einem anderen Jahrhundert, ob aus der Vergangenheit oder der Zukunft hatte er noch nicht feststellen können. Allein deswegen würde er alle Hebel der Welt in Bewegung setzen, um sie näher kennenzulernen. Koste es, was es wolle.

 

5 / Fadesse Oblige

 

Da standen sie nun, Olympia und Finn. Finn für Finnegan. Die Tanzstunde neigte sich dem Ende zu. Sie ahnte, was jetzt kommen würde, und wusste, dass er ihre Vorahnung spüren konnte. Wieso konnte er das? Langsam wurde ihr unheimlich zumute. Noch bevor er irgendetwas von sich geben konnte, raffte sich Olympia auf, verabschiedete sich hastig und zog von dannen, Finn ratlosen Blickes zurücklassend. Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Einhorn, das gehegt, gepflegt und bewegt werden wollte. Und Finn beschloss, gemütlich die Uferpromenade der Seine entlang bis zur Île Saint-Louis zu spazieren, um sich bei Berthillon eine Haselnuss-Eiscreme zu genehmigen, bevor er seinen Freund Christophe traf. Halt nein, diesmal würde es Lavendel-Eis sein, so lavendelfarben wie Olympias leuchtende Augen. Gesagt, getan. Die letzten Strahlen der Wintersonne kitzelten in seiner Nase, während er gedankenkreisend vor sich hin schlenderte. Am Quai de Béthune angekommen setzte er sich ans Ufer, einfach, um den Moment zu genießen. Einst lebten Baudelaire, sowie Marie Curie in dieser Ecke, um nur einige zu nennen. Finn ließ seinen Blick über die Seine schweifen, atmete die frische Luft ein und träumte vor sich hin. Plötzlich nahm er aus dem linken Augenwinkel einen Fremdkörper im Wasser wahr. Einen Fremdkörper in CHROMOXIDGRÜN. Es war eine leere Flasche, die harmonisch mit den Wellen tanzte, nein es musste eine Flaschenpost sein, denn es befand sich ein zusammengerolltes Papier darin. Neugierig wie immer, stieg er die steinerne Treppe zum Wasser hinab und fischte mit dem Ast, den ihm zuvor der fünfhundert Jahre alte Baum am Quai geschenkt hatte, nach der Flasche. Mit Erfolg. Es musste eine sehr alte Flasche sein, denn die Kanten waren ziemlich abgeschliffen. Erwartungsvoll entfernte er den Verschluss und schüttelte die vergilbte Papierrolle heraus. Vorsichtig rollte er das Blatt auseinander. Es waren handgeschriebene Klaviernoten, darunter stand die Zahl 17 und rechts daneben Finnegan. Finnegan?! So viele Zufälle auf einmal waren doch etwas too much für seinen Geschmack. Nichtsdestotrotz würde er versuchen, diese Melodie zu spielen, später wenn er nach Hause kam. Zuvor war er aber noch mit Christophe im Deux Magots verabredet um mit ihm ein gemeinsames Kurzfilmprojekt zu besprechen. Es lautete auf den Namen „Fadesse Oblige“ - Fadesse ist österreichisch und steht für „Langeweile“. Und es sollte eine charmante Persiflage auf die Theaterwelt werden, wobei alle Rollen von ein und demselben Schauspieler dargestellt werden würden. Dieser sollte also ebenso den „Cohiba“ paffenden Regisseur eines experimentellen Theaterstücks im Nirgendwo geben, wie auch den mausgrau kostümierten, hageren Theaterschauspieler, der zwei Stunden lang schweigend und leicht stupiden Blickes auf der ebenfalls mausgrauen Bühne verharren würde. Und ebenso das teils verstörte Banausen-Publikum, die schrägen Kostüm- und Bühnenbildner, und natürlich auch eine halbintellektuelle Theaterkritikerin. Und alle würden jeweils vor dem Stück, sowie im Nachhinein „interviewt“ werden. Christophe und Finn hatten gebrüllt vor Lachen, als sie sich Finns Idee im Detail ausmalten. Christophe war sofort Feuer und Flamme und erklärte sich bereit, ihm bei der technischen Umsetzung des Kurzfilms behilflich zu sein, da er an der Pariser Filmhochschule studierte. Das, was sie noch ausdiskutieren wollten war lediglich, ob der Schauspieler mit Textvorgabe oder doch lieber improvisiert arbeiten sollte. Dieser Film hing vor allem von dessen Können und von der Kameraführung ab. Falls es eine Improvisation werden würde, hatte er schon eine gute Schauspielschule in Saint-Germain-des-Prés im Sinn. Schon von weitem sah er Christophes karottenroten Schopf in der Menge...

 

 

6 / Fadesse Oblige

 

Olympia war gerade aus dem Stall heimgekehrt, zog sich die mokka-braunen, ledernen Reitstiefel aus und nahm ein heißes Bad mit wohlduftendem Rosenöl. Dieser Finn ging ihr einfach nicht aus dem Sinn, um nicht zu sagen, er war Dauergast in ihrem Kopf. Na so etwas! Wie dem auch sei, sie versuchte, sich auf die bevorstehende Sarah Moon Vernissage, auf die sie sich aufrichtig freute, zu konzentrieren. War sie doch ihre Lieblings-Fotokünstlerin. Quillis und Phillis gaben Edith Piaf zum Besten, während Olympia mit den Orchideen besprach, wie sie sich in der kommenden Tanzstunde in der Causa Finn verhalten solle. Kein leichtes Unterfangen. Du meine Güte! Es war schon halb sieben! Im typisch chaotischen Olympia-Stil sprang sie ins bestellte Taxi. Natürlich war sie zu spät dran - wie immer. Eigentlich war sie ein Mensch voller Wiedersprüche: einerseits zwar sehr aktiv, aber in diesem Aktionismus stets tief in sich gekehrt. Lag es an ihr? Lag es am Rest der Menschheit? Sie wusste es nicht.

Die Ansprache hatte bereits begonnen, die Ausstellungsräume der brandneuen Galerie im Marais waren zum Bersten voll mit Menschen, plus einem etwas verloren dreinschauenden chinesischen Schopfhündchen (das ist eine Art Nackthund mit blondem, gescheiteltem Pony), das ein besonders exzentrisches Wesen wie seinen Augapfel hütete. Mitten in der Menge entdeckte sie Paulette, die 85jährige Malerin. Sie hatte einen herrlich trockenen Humor und war einer jener seltenen Menschen, der Olympia dann und wann ein LACHEN entlocken konnte. Was eher an ein Wunder grenzte, denn Olympia hatte einen sehr speziellen, eigenen Humor. Wer das schaffte, hatte den Weg zu ihr gefunden. Und Paulette, die Weise, hatte reüssiert, denn sie lagen auf der gleichen Wellenlänge. Aber manchmal brachte sie diese auch zum Weinen. Etwa wenn sie begann, von ihren dramatischen jungen Jahren zu erzählen. Da Olympia eine äußerst lebhafte Fantasie besaß, konnte sie diese Geschichten spüren und „sah“ sie direkt vor sich, daher war es für sie kaum zu ertragen, wenn jemand, den sie mochte, leiden musste. Ebenso spürte sie hautnah, wenn es Paulette gut ging. Heute Abend etwa hatte sie eine absolut umwerfende Ausstrahlung, und wirkte maximal wie knappe 60.

Gleich sollte die angekündigte Musik-Wort-Performance „FOTO.GEN“ beginnen, begleitet von einer Stradivari. Auf diese war Olympia besonders gespannt, denn sie war einer der Gründe, weshalb sie zur Ausstellung wollte. Die Verfasserin des Textes war nämlich ihre über fünf Ecken verwandte Cousine Kalliope aus Wien, die gerade mit einer schweren Grippe das Bett hütete, und zugleich furchtbares Lampenfieber hatte. Wie jedes Mal, wenn einer ihrer Texte live präsentiert wurde. Deswegen musste nun Olympias Wenigkeit die Stellung halten und brühwarm von der allgemeinen Reaktion des Publikums berichten. Insgesamt wirkte die Performance großartig, der Text wurde hervorragend von einer Charakter-Schauspielerin interpretiert, die aussah wie Nofretete. Er beschrieb unter anderem die magischen Momente in der Fotografie, und behandelte die Frage, ab wann ein Foto als hochwertig einzustufen ist und hierzu ließ Kalliope interessanterweise alle Beteiligten eines Foto-Shootings selbst zu Wort kommen: den Fotografen, die Kamera, das Objekt, die Dunkelkammer und das Foto selbst. Und wie! Psychologisch durchdacht und von feinem Humor durchzogen. Das Publikum war einerseits amüsiert und andererseits konnte man ein Blatt Papier fallen hören, so mucksmäuschenstill war es. Letztendlich reagierten alle derart begeistert, dass sicher mehr als die Hälfte der Anwesenden Kalliopes Visitenkarte an sich nahmen. Und das, obwohl sie nicht persönlich da sein konnte. Chapeau! Das will etwas heißen, in der verwöhnten Pariser Kunstszene. Sie musste sie auf der Stelle anrufen.

 

 

7 / Fadesse Oblige

 

MUSIK: Gold Panda - You

 

Olympia und Paulette bahnten sich den Weg zum Buffet. Paulette entschied sich für einen Merlot, Olympia angelte sich zwei Croûtons mit Ziegenkäse, Feige und Thymianhonig. Aus einem ihr unerfindlichen Grund, blickte sie über ihre linke Schulter. Und – sah Finn, in Begleitung eines mit Sommersprossen übersäten jungen Mannes. Das konnte doch nicht sein! Oder hatte sie etwa erwähnt, dass sie später auf der Vernissage sein würde? Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt, und ihre Gesichtsfarbe wechselte sekündlich die ganze Rottonpalette hinauf bis hin zu Purpur. Paulette hob die linke Augenbraue und amüsierte sich königlich. Finn hatte Olympia bereits entdeckt, kaum dass er und Christophe den Raum betreten hatten, und startete direkt auf sie zu. Eigentlich war er zu müde gewesen, aber sein Freund, hatte ihn letzten Endes doch noch überzeugt, mit zu kommen. Für soviel Schicksal auf einmal musste er jetzt einfach Verständnis haben. Und so standen sie sich zum zweiten Mal am selben Tage vis-à-vis und brachten kollektiv keinen Ton heraus. Paulette und Christophe unterhielten sich indessen angeregt über Quantenphysik. Als Olympia sich allmählich wieder gefangen hatte und sich ihre chromoxidgrüne Augenfarbe auf einmal wieder gen Lilablassblau zu verändern begann, fasste auch Finn wieder Mut und fing an, zu erzählen. Diesmal vom geplanten Kurzfilm „Fadesse Oblige“, um den sich seine Gedanken kurz zuvor noch gedreht hatten. Und zwar mit Händen und Füßen, in dem er ihr die einzelnen Rollen spontan und voll überschäumender Begeisterung vorführte. Und er beschloss in diesem Augenblick, Olympia vorzuschlagen, die Dritte im Bunde der Produzenten zu sein - nichts ahnend, dass in ihren Adern blaues Blut floss und allein der Titel unter Umständen einen Affront gegen sie bedeuten könnte. Ein Trio Infernal - das war die Idee! Aber soweit kam er erst gar nicht. Denn Olympia weinte. Sie weinte vor LACHEN.

 

 

FIN